Kilimandscharo-Tagebuch: Leseprobe

Juni 2012, noch drei Monate

Gestern habe ich mit Schrecken festgestellt, dass unsere Kili-Reise immer näher rückt. Ich stand mit ein paar anderen Müttern neben Sharons Pferdestall – Sharon leitet ein Pferdetherapiezentrum für unterprivilegierte und behinderte Kinder und gibt, um dies zu finanzieren, Reitstunden für Kinder aus wohlhabenderen Familien – und wartete darauf, dass die Mädchen von der Koppel zurückkamen. Eine der anderen Mütter hatte gehört, dass ich eine Kilimandscharo-Besteigung plante, und begann, mich zu allen Einzelheiten auszufragen. Sie hatte früher in Tansania gelebt und sich dadurch eine gewisse Fachkenntnis zum Thema angeeignet.

»Wann geht es denn los?«

Schluck. »Äh – erste Septemberwoche«, stieß ich hervor.

»Oh, super, das ist ja schon bald!«, flötete sie.

Was, bald? Ich rechnete mir das im Kopf schnell nach und stellte fest, dass es noch drei Monate waren. Das klingt theoretisch nach genügend Zeit, aber ich muss auch allerlei hineinpacken.

Zum Beispiel ist da mein Tagebuch. Im Februar hatte ich große Ambitionen, das Thema Kilimandscharo von vorne bis hinten zu durchforsten und jede Menge interessanter Fakten zu sammeln, aber bisher beschränkt sich meine Faktensammlung hauptsächlich auf diverse Methoden der Toilettenverrichtung in der Wildnis. Wenn mein Kilimandscharo-Bericht mehr sein soll als ein Werbezettel für weibliche Urinierhilfen, dann gibt es für mich noch einiges zu tun.

Außerdem muss ich noch einen Arzttermin wegen Höhenkrankheit und Malaria-Prophylaxe machen, unsere Visa für Tansania beantragen, zwei Reisetaschen kaufen und meine Liste nach noch fehlenden Posten durchforsten. Ich will gar nicht an all die Spaziergänge in meinen Wanderstiefeln denken, die ich eigentlich noch machen sollte. Und ich muss das alles eher früher als später angehen, denn im August werde ich mit meiner Familie zwei ganze Wochen unterwegs sein in unserem letzten gemeinsamen Afrikaurlaub – zwei Wochen, die mir für die Kili-Planung fehlen werden.

Das alles ging mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, als ich da in der Nachmittagssonne mit den Reitstundenmüttern plauderte und das Wort »bald« in mir eine kleine Panikattacke auslöste. Auf einmal sahen die nächsten drei Monate sehr stressig aus, und ich nahm mir vor, zu Hause gleich eine neue Kili-Liste zu schreiben. Ich fühle mich immer gleich besser, wenn ich eine lange Liste geschrieben habe.

Aber das Verhör war noch nicht zu Ende.

»Zu welchem Flughafen fliegt ihr denn?«

Ich öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder. Ich hatte keine Ahnung, zu welchem Flughafen wir flogen. Ich wusste gerade mal, dass das Kilimandscharo-Massiv in Tansania ist und nicht anderswo, und marterte nun mein Gehirn auf der Suche nach Städtenamen in Tansania.

Ich kannte keine.

»Ach, weißt du, wo eben die Leute hinfliegen, die den Kilimandscharo besteigen«, verkündete ich mit aller Zuversicht, die ich aufbringen konnte. Ich wusste nur, dass jemand unsere Flugtickets gebucht hatte. Ich wusste nicht einmal, wer genau das war.

»Wie aufregend! Ich freue mich für dich!«, fuhr sie fort. »Auf welcher Route klettert ihr denn?«

Moment… das wusste ich mal, denn eine Route wurde auf jeden Fall erwähnt. Wir würden die längere davon nehmen, daran erinnerte ich mich. Um uns besser zu akklimatisieren. Sie haben allesamt komplizierte Namen, die ich mir nicht merken kann, aber manche haben auch Spitznamen, und die kann ich besser behalten. Wie zum Beispiel die Coca-Cola-Route und die Whiskey-Route.

Ich habe immer gehofft, es würde vielleicht eine Chardonnay-Route eröffnet.

Die Ausfragerei hatte immer noch kein Ende. Als nächstes wollte sie wissen, ob wir bei Vollmond klettern würden. Die Frage kam so überraschend, dass ich sprachlos war. Vollmond? Was interessiert mich denn der Mond? Ich habe noch nie in meinem Leben den Urlaub nach den Mondphasen geplant. Nach den Phasen des Monsuns vielleicht, aber nicht des Mondes. Es ist schon kompliziert genug, darauf zu achten, wann die Kinder Schulferien haben oder wann ich einen Babysitter bekommen kann. Erwägungen astronomischer Art spielen daher bei meiner Urlaubsplanung normalerweise keine Rolle. Diesmal war meine einzige Sorge, das beste Wetter für das Erklimmen eines Sechstausenders zu erwischen, denn ganz offen gesagt möchte ich nicht das Risiko eingehen, in einem Schneesturm zu erfrieren. Aber der Mond? Der ist auf meiner Prioritätenliste genauso weit unten wie das Fernsehprogramm in der ersten Septemberwoche.

Anscheinend ist jedoch heller Mondschein während der Gipfelnacht bei Kili-Kennern sehr groß geschrieben, was ich aber nicht wissen konnte, weil ich eben solche Dinge nicht im Voraus recherchiere. Zum Glück wurde ich gerettet, bevor meine Ignoranz bezüglich der Mondphasen des Septembers offensichtlich wurde. Sharon, die sich zu uns gesellt und den letzten Teil der Unterhaltung überhört hatte, schnitt mit autoritärem Ton alle weitere Diskussion ab: »Frag uns nicht so viel technischen Kram. Wir gehen einfach dahin, wo man es uns sagt, und marschieren los. Rauf auf den Berg!«

Und da hatte sie Recht. Genau das denke ich auch. Ich freue mich sogar heimlich auf die Kili-Reise, wenngleich ich vorgebe, ein wenig Angst davor zu haben. Denn in Wirklichkeit weist sie alle Merkmale einer Traumreise auf: Außer jeden Morgen zu entscheiden, ob ich erst den linken oder den rechten Stiefel schnüren soll, werde ich an absolut nichts denken müssen.

Ich werde nicht einkaufen müssen.
Ich werde kein Essen kochen müssen.
Ich werde noch nicht mal das Essen planen müssen.
Ich werde niemanden antreiben müssen, außer mich selbst.
Ich werde keine Fragen beantworten müssen, außer vielleicht »Möchten Sie Tee oder Kaffee?« wenn ich nachmittags ins Lager stolpere.

Ich werde mir überhaupt keine Gedanken machen müssen, höchstens vielleicht darüber, ob es wirklich nötig war, die Schaufel den ganzen Berg hinauf zu schleppen. Ich werde einzig und allein über diese eine Frage stundenlang nachdenken können, und seltsamerweise macht mich diese Vorstellung überaus glücklich.

***

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